R E N A T A    J A W O R S K A
ATELIER JAWORSKA | atelier@renatajaworska.com
Fluchtlinien

"Fluchtlinien"

Text: Bernd Stiegler

 

Die Welt ist nicht das, was sie zu sein scheint. Oder genauer: Sie erscheint immer in mehrfacher, vielfacher Gestalt. Sie ist immer auch Schein, aber nicht Schein allein. Sie ist vielfach gedoppelt, vervielfältigt, multipliziert, durch Medien, Bilder, aber auch durch die alltägliche Wahr nehmung, die sich immer aus verschiedenen Ansichten zusammensetzt. Eine jede Ansicht der Welt setzt sich aus vielen Facetten zusammen, ist ein Kompositbild, das aus vielem eines macht. Wie es dazu kommt und wie genau das funktioniert, ist eine komplizierte Frage, zu deren Beantwortung auch die Kunst Entscheidendes beizutragen hat. Ihre Arbeit mit Bildern ist letztlich auch eine Arbeit über die Vielgestaltigkeit der Welt in der Wahrnehmung: der alltäglichen, politischen, medialen. Sie kann und sollte diese nicht in Eindeutigkeit überführen, wohl aber im wahrsten Sinn des Wortes in den Blick nehmen. In der Kunst wird der Schein der Welt zum schönen Schein, der mitunter die Scheinhaftigkeit der Erscheinungen offenlegt oder durchbricht. Ein Riß geht durch die Welt: Es ist der Riß, den die Kunst in ihr entdeckt und bloßstellt. Auch in Renata Jaworskas Bildern erscheint die Welt nolens volens im schönen Schein der Kunst. Allerdings wird sie hier zerlegt in mul - tiple Ansichten, die oft übereinandergelegt werden, fast wie ein Schleier aus Linien, der sich über die Welt legt. Das ist der Riß, der sich hier durch die Welt zieht. Wo im Alltag die Bewegung hin zu einem Bild, zu einem einheitlichen Bild geht, ja zu einer Weltanschauung wird, regiert hier die Vervielfältigung, die Multiplizierung. Was sich vermeintlich als ein Gegenstand darbietet, wird hier zerlegt, analysiert, bildnerisch-künstlerisch seziert und subtil übereinandergelegt. Die Welt als fremder Wille und angeblich eigene Vorstellung wird in ihre Bestandteile zerlegt und als zersplitterter Bildraum neu eröffnet. Die Dinge scheinen feine Netzwerke zu bilden, die sich über sie legen und die Welt insgesamt wie ein Spinnenetz einfangen. Vor dem Horizont oder dem, was wir gemeinhin als Wolken bezeichnen würden, entspinnt sich ein eigenes Geschehen, das der Weite ihre Offenheit nimmt und sich vor sie stellt. Auch das ist eben die eigentümliche Vorstellungskraft der Kunst, die Bekanntes verwandelt und in einen Raum der Ambivalenzen, der Zweideutigkeiten und bildnerischen Unruhe überführt. Die Gewohnheit der Wahrnehmung wird gestört. Dieser ästhetische Einspruch ist Aufgabe der Kunst: ein Störfall, der den Ernstfall erprobt, ein Fortziehen der Liniennetze, um zu schauen, was sich daraus dann ergibt, ein Erkunden der explosiven Kraft der Wahrnehmung in der Darstellung. Die besondere Kunst von Renata Jaworska ist dabei die Suche nach Fluchtlinien. Das ist eine alte malerische Tradition der Kunst, die spätestens seit der Renaissance die Welt als Anschauung und Vorstellung organisierte und dabei die Ansicht der Maler mit jenen der Betrachter zu versöhnen suchte. So wie ich die Welt sah, in dieser Ordnung, in die ich sie brachte, so sollst auch du die Welt sehen. Die Kunst war eine besondere Weise, Wirklichkeit in eine übersetzbare Form zu bringen, die den Einzelnen, das Individuum, das Subjekt zum Herren über die sichtbare Welt machte. Anders die Welt, die sich in den Bildern Renata Jaworskas darbietet: Hier regiert keine festgefügte, vorgefertigte und vorbestimmte Ordnung. Hier ist selbst das vermeintlich Bekannte eigentümlich verfremdet, aufgelöst in ein feines Netz aus Linien, die wie Schwärme von Vögeln über den Bildraum ziehen und ihre Spuren hinterlassen.

Das Muster, das sich hierbei ergibt, ist ein Versuch, inmitten in ihrer Fülle Fluchtlinien auszumachen. Fluchtlinien sind einerseits perspektivische Organisationen des Raums – so auch des Bildraums, der ohne sie ein informelles Dikkicht wäre, wie wir es aus der Malerei der 1950er und 1960er Jahre kennen. Fluchtlinien sind aber andererseits auch Erkundungen von möglichen Wegen, die es gestatten, inmitten des Dickichts der Erscheinungen nicht nur Ordnungen auszumachen, sondern aus diesen vielleicht auch herauszuführen. Will man jedoch Fluchtlinien ausmachen, so muß man zuerst einmal die Fluchtpunkte der bestehenden Ordnung detektieren und nachzeichnen. Welche Gestalt hat das Netz, das unsere Wahrnehmung bestimmt? Wie fängt es uns ein? Das ist die politische Dimension von Renata Jaworskas Bildern. Wir können sie in ihnen ausmachen.

Die Freiheit der Kunst, die sich aber eben auch hier zeigt, ist letztlich die Erkundung unseres eigenen Raums und das bedeutet zuallererst unseres freien Raums jenseits vorgefertigter Muster, Strukturen und vorgezogener Linien. Das Wuchern der Linien, das Ausziehen von Angedeutetem, das Fliehen des vermeintlich Festen ist die explosive Kraft der Kunst. Sie verflüssigt Festgeformtes, dynamisiert Stabiles und bricht Starres auf. Renata Jaworska erinnert uns daran, daß sich unsere Welt aus vielen zusammensetzt und zeigt uns, daß ihre Vielgestaltigkeit ein Segen ist. Und das ist keine kleine Leistung. Und manchmal, ja manchmal erwächst daraus ein schöner Schein des Unbestimmten.

^